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Wenn alle Bollers Verstehen hätten! (B&F 6)

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«Hey Boller. Du siehst heute wirklich beschissen aus. Was ist los mit dir? Bist du krank?»

Fredi, der nach einem Kurztrip mit zwei Franzosen eben von Huế zurückgekommen ist, schaut auf den in der Hängematte schaukelnden Boller hinunter. Es ist drückend heiss. Der Ventilator summt auf Hochtouren. Bollers bleiches Gesicht und der müde, ausdruckslose Blick stimmen Fredi nachdenklich. Es dünkt ihn, als hätte Boller in den Tagen seiner Abwesenheit abgenommen.

Boller schaut nicht auf. Mit schwacher Stimme begrüsst er den Heimkehrer.

Plötzlich, als hätte er eine Eingebung, fragt dieser mit süsser, aber bestimmter Stimme: «Es ist das Massaker von Vegas, oder? Sag nur, auch das würdest du …..?» Fredi stockt mitten im Satz, als könne er selbst nicht glauben, was er gerade aussprechen wollte.

«Ja Fredi. So ist es, und dieses elendliche Verstehen macht mich krank.»

Bollers Worte kommen nur mühsam über seine Lippen. «Ich kann und darf das, was ich denke, nicht aussprechen, und der Schreiberling sollte soetwas schon gar nicht schreiben.»

«Aber warum?», fragt Fredi erstaunt. «Gedanken sind doch frei?»

«Eigentlich ja schon, aber: Allein der Gedanke des Verstehens ist doch in der heutigen Zeit bereits annähernd ein Verbrechen. Man könnte mir nachsagen, ich hätte Sympathien für den Täter oder die Tat.»

Er legt eine Pause ein und auch Fredi schweigt. Boller setzt sich auf und fährt fort: «Dieses alles Verstehen zerrt an meiner Substanz. Ich kann weder Partei ergreifen, noch eine eigene Meinung finden oder ein Urteil fällen. Gerade solche Attentate machen mich krank, weil ich sie verstehe und gleichzeitig verurteile. Die Bilder in meinem Kopf (Anmerkung des Schreiberlings: siehe Cover) zerreissen mich! Wenn ich verurteilen möchte, hebt das Verständnis für den Täter das Urteil auf. Und gutheissen kann ich nicht, weil ich die Tat verurteilen möchte. So schwebe ich wie ein Luftballon, der von Kindern immer wieder in die Höhe geschupst wird, in einem leeren Raum, der mir je länger je sinnloser vorkommt. Dabei würde der Luftballon so gerne seine Richtung spüren, auf dem Boden seinen Platz finden; zur Ruhe kommen.»

Fredi blickt Boller lange an. Dann erhellt ein Lächeln sein Gesicht: «Ja, mein Bollerchen, du bist mit dem grossen Verstehen geschlagen, und ich kann dein Leid teilweise auch nachvollziehen. Aber bedenke, mein lieber Freund: Dein Verstehen lässt auch Hass nicht zu. In deinem Verstehen ist die Vergebung sozusagen fix einbetoniert. Und wenn alle dieses Verstehen hätten? Es gäbe weder Streitigkeiten noch Kriege. Die Welt wäre eine friedliche und dafür Boller, dafür darf mein lieber Boller schon etwas leiden.»

Boller schaut zu Fredi und denkt: Psychopathen wird es trotzdem weiterhin geben. Aber er schweigt. Er will Fredis Heile-Welt-Gedanken nicht zerstören.

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