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Boller und der Blumenstrauss (B&F 1)

Boller und der Blumenstrauss (B&F 1)

Das konnte doch nicht sein, schoss es Fredi durch den Kopf. Warum schaute Boller so, ja fast verständnislos, wie es ihm schien, auf diesen in Teilen verblühten Blumenstrauss?

Boller war in seinem klaren Verstehen von allem und jedem so ausgeprägt, dass es, egal was auf dieser Welt passierte, für Boller nie eine Frage des Nichtverstehens gab. Boller hatte das grosse Verstehen. Boller verstand alles. Ob Amoklauf, Terroranschlag, Kriegsgeschehen oder was auch immer an Schrecklichem oder Gutem auf dieser Welt passierte: Boller verstand den/die Täter, er verstand das Geschehen.

Boller verstand aber immer auch die Gegenseite, die Hinterbliebenen. Er trauerte mit ihnen, konnte ihre Trauer aufnehmen, mittragen und nachvollziehen. Wenn gleich, an die Beerdigung oder an einen Gedenkgottesdienst würde er nie gehen. Zu verlogen erschien ihm jeweils die Trauergemeinde. Aber auch diese Verlogenheit verstand er. Viele Menschen hassen andere. Stirbt dieser, sagen sie, sie hätten einen Freund verloren. Das, so dachte Boller jeweils, das sagen sie nur, weil sie die anderen hassen, solange sie leben. Erst im Tod werden sie zu Freunden, weil sie ja sonst gar keine Freunde hätten. Aber auch das verstand Boller.

Boller schaute immer noch wortlos auf das alternde, vor sich hin welkende Bouquet.

Fredi, der schöne Schwule von vis-a-vis, war eigentlich das Gegenteil zu Boller. Ihn interessierten nur Knackärsche. Am liebsten solche in Uniform, die er von hinten anfassen und dann verführen konnte. Ihn interessierten weder Meinungen noch jegliche Verständnisse für irgendetwas. Was ging es ihn an, wer wen warum umbrachte. Es interessierte ihn nicht. Er wollte nichts mehr als einen Knackarsch zwischen die Hände und unter sein Verlangen kriegen. Alles andere war nichtig und Fredi wusste, Boller verstand auch dies.

Doch nun sass dieser Boller wie versteinert ihm gegenüber am Küchentisch. Seit Jahren waren sie nun schon zusammen unterwegs - seit 9/11 als Boller wegen dem grossen Verstehen seine Familie verlassen musste und er, Fredi, der schöne Schwule, der vis-à-vis von Bollers Haus nicht mehr leben konnte, weil er als Schwuler, der nur auf sein Verlangen nach Liebe und Geborgenheit, nach Lust und Erfüllung bedacht war, in diesem Quartier einfach keine Heimat fand, seither waren sie beide unterwegs.

Zusammen tingelten sie durch die Welt. Mal alleine, mal mit dem Schreiberling, unwissend wo ihr Ziel lag, aber immer wissend, dass Boller einfach alles, wirklich alles verstand und er, Fredi, jedem, wirklich jedem Knackarsch hinterherrennen musste.

«Hey Boller! Was ist los mit dir. So habe ich dich noch nie gesehen. Du wirkst - entschuldige den Ausdruck - du wirkst», Fredi fuhr sich lachend mit der Hand, der kleine Finger wie immer neckisch weggetreckt, geschmeidig durchs Haar, «verständnislos!»

Boller schaute zu Fredi, als wäre dieser ein Geist. Nein, er blickte ihn nicht an. Boller blickte durch ihn hindurch irgendwo in die Ferne, in ein Nichts aus grauen Nebelschwaden und vertrockeneten Blütenblättern. Dann stand er auf, lief hinüber, stellte sich vor den welken Strauss und begann langsam eine welke Blüte nach der anderen vorsichtig hinaus zu zupfen. Sein Gesicht erhellte sich, dann sagte er: «Wie schön die Vergänglichkeit doch auch sein kann. Man muss sie nur verstehen.»

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