Abschied von Vietnam – der letzte Blog-Eintrag
Vorwort: Diesen Text habe ich Mitte Januar geschrieben. Obwohl mich eine sofortige Publikation bis in die Fingerspitzen reizte, habe ich ihn bewusst zurückgehalten. Ich wollte meine Familie, Freunde und Kollegen nicht vor den Kopf stossen und in mir die Gewissheit aufkommen lassen, dass der Inhalt auch dann Bestand hat, wenn ich wieder im heimischen Alltagstrott angekommen bin.
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Jetzt heisst es also Abschied nehmen. Ich hätte nie gedacht, dass mir dieser so schwerfallen würde. In mir lodert nicht nur die Frage nach dem Warum!
Bevor ich Anfang Oktober letzten Jahres losgefahren bin, haben mir Freunde gesagt: "Diese vier Monate werden dich verändern." Ich hatte ungläubig gelacht.
Heute weiss ich, sie hatten recht. Allein schon deshalb, weil auch nach vier Monaten Abwesenheit nicht das Gefühl aufkommt, irgendetwas aus der Schweiz zu vermissen.
Wie ein Hund die Nässe von seinem Fell schüttelt, ist vieles von mir abgefallen, was mir wichtig und erstrebenswert erschien.
In Saigon auf einem billigen, kleinen, wackligen Plastikgartenstuhl am Strassenrand sitzend, tippe ich den Abschieds-Text in die Bildschirm-Tastatur meines Smartphones. Während der Verkehr unablässig die Luft verpestend und hupend an mir vorbeizieht und der Zigarettenrauch meines Nachbarn mir in dicken, stinkig ungesunden Schwaden ins Gesicht weht, suche ich nach Hinweisen, die mir die Heimreise schmackhaft machen könnten.
Sehen wir mal von den lieben Menschen rund um mich, Familie, Freunde und Arbeitskollegen ab, so bleibt nichts als Leere. Die Sehnsucht nach Europa, nach der Schweiz gleitet in ein grosses, endlos dunkles, schwarzes Loch und entschwindet. In weiter Ferne steht, wie das Licht am Ende eines Tunnels, in grellen, billig leuchtenden und blinkenden Neon-Buchstaben «Heimat?», aber das "Ja" dazu ist fast verblichen, wird schwächer und schwächer bis es gänzlich erlischt.
Was ist in meinem Kopf aus dieser wundervollen Heimat an den Gestaden des Walensees und am Fusse der Churfirsten geworden?
Die Bergspitzen leuchten und funkeln wie eh und je. Die schroffen Felswände tauchen in den tiefblauen Spiegel aus Wasser und Licht. Sie vermitteln Geborgenheit und Bedrohung zugleich. Das macht sie mystisch, anziehend, ja verführerisch schön. Im gleissenden Sonnenlicht leuchten die wenigen weissverschneiten Berggipfel wie indonesischer Opal in der Auslage des Juweliers. Weiter dem Tal zu spriessen grüne saftige Matten, es riecht nach Tanne, Moos, Klee und frisch geschnittenem Gras. Munter sprudelt das Bächlein dem See zu und bringt frisches, sauberes Wasser ins Tal.
Eine scheinbar heile Welt. Alles ist reglementiert, gefasst in enge Maschen, damit allen Recht getan, kein Unrat liegen bleiben und jedes Tier artgerecht leben kann. Normierungen und Versicherungen bestimmen, führen durch Tag und Nacht. Sie werden ausgebaut und verstärkt, auf dass das Chaos weggesperrt bleibt.
Diese überreglementierte und durchnormierte, ach so klar strukturierte Lebensweise ist in den letzten vier Monaten in einer Galaxie aus Lachen, Lebensfreude, Einfachheit, Hilfsbereitschaft, herzhafter Nähe und Chaos verschwunden.
Auch hier in Viet Nam suchen viele das Glück im grossen Geld. Aber die Freunde habe ich da gefunden, wo es nicht im Übermass vorhanden ist. Wo spontan Nachbarn eingeladen werden, wenn Besuch kommt. Wo das gemeinsame Essen, das Zusammensitzen, Plaudern und Spass haben wichtiger sind als hohe Saläre und grosse Geschenke. Wo aus einer Einladung die nächste entsteht, andere Nachbarn eingeladen werden und daraus wieder neue Einladungen und neue Bekannte gewonnen werden. Es ist wie eine nie versiegende Quelle.
Es ist nicht so, dass hier alles Gut ist. Ich blicke nicht durch eine rosa gefärbte Drei-Wochen-Ferien-Brille. Im Gegenteil: Mein Urteils- und Beobachtungsvermögen ist geschärft durch eine Vielzahl von Reisen, Bekanntschaften und Gesprächen. Die Liste der Misslichkeiten ist lang: Angefangen bei Abfall, Armut, Ausbeutung, Korruption und Luftverschmutzung erübrigt sich eine weitere Aufzählung.
Mit diesem Votum will ich die in meinen Augen überregulierte Gesellschaft nicht schlecht reden. Ich durfte nun aber in über 100 Tagen erfahren, dass es auch anders geht und mir dieses Anders mehr zusagt. Dieses will ich nun erfahren, gerade auch im Wissen, dass darin viel Ungewissheit, Chaos und auch Gefahren lauern.
In diesem Sinne ist mein Abschied aus Vietnam ein Abschied aus der Schweiz und der letzte Blogeintrag auf indochina-by-bike.ch ein Aufbruch in eine neue Zeit.
Alle Bilder zur Reise auf http://www.pictapas.ch/vietnam
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Nachwort:
Danke für das Interesse am Blog.
Danke für die Rückmeldungen und die zum Teil kritischen Anmerkungen.
Und Danke für die grosszügigen Spenden für das Kinderspital von Beat Richner in Kambodscha.