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Eine Laudatio auf den Schatten

2022 06 19 06.19.32

Die Schattenseiten des Lebens, diese dunkeln Flecken, wo kein Sonnenstrahl hinkommt, Feuchtigkeit die Welt regiert, wo keiner hin will und wenn, dann doch nur zum Pissen nach übermässigem Bierkonsum. So stellen wir uns die Schattenseiten des Lebens, die dreckig dunkeln von Unglück geplagten Ecken in unserem Dasein vor. Kein Glück, kein Geld, kein Licht, Schatten eben.

Die Sonnenseite, das ist Leben, Wachstum, Wärme, Frühling, spriessende Natur, leichte luftige Kleider, Liebe, Strand und Ferien. Das mag für einen Teil unserer Welt zutreffen, aber ein anderer Teil, jener Teil, in dem ich jetzt lebe, da ist der Schatten das Heilsbringende, ja fast Überlebensgarant. Glück hat, wer sich Schatten leisten kann. Der Looser sitzt auf der Sonnenseite, ackert unter der prallen Sonne, schwitzt und keucht und deshalb drängen sie alle zum Schatten.

Aber warum schreibe ich das überhaupt? Weil die Metapher «auf der Schattenseite des Lebens zu stehen» nur in einem Teil der Welt passend ist und für die anderen fast despektierlich klingen muss. In Vietnam und anderen heissen Ländern trifft die Schattenseite des Lebens als das Bezugsrecht zur Arschkarte, nicht zu. So zeigt sich einmal mehr, wie unterschiedlich unsere Kulturen doch sind.

Leben braucht Sonne. So viel habe auch ich mitbekommen. Aber die Aussage «Schattenseite des Lebens» wird dem Schatten in keiner Art und Weise gerecht.

Der Schatten ist ein Kind der Revolution gegen des Licht. Der Revolutionär, der sich mutig, stark und ohne Rücksicht auf Verluste dem Licht entgegenstellt, ist das Objekt, das den Schatten spendet. Ist die Erde gar der Revolutionär sprechen wir von Dunkelheit. Ohne diese Revolutionäre gäbe es den Schatten nicht. Auch gibt es den Schatten nie ohne Licht. Das weiss jeder Fotograf. Und immer ist es das revolutionäre Objekt, das den Schatten spendet.

Zum Schluss noch dies. Ich bin ein Seebub. In Rüschlikon am Zürichsee aufgewachsen und dann an den Walensee gezogen. Und immer war ich auf der Schattenseite der beiden Seen. Rüschlikon wurde abfällig als Pfnüselküste bezeichnet und in Quarten hatten wir im Winter wochenlang keine direkte Sonneneinstrahlung. Schattenseite eben. Aber es war an beiden Orten wundervoll. Und heute? Da lebe ich in Vietnam wieder an einem See und schleiche dem Schatten entlang. Also bin ich nicht nur ein See- sondern auch ein Schattenbub.

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